Hintergründe

Ordnungen in der Fläche des Bildes
von Erich Seidel
Referat zur Generalversammlung des Kunstvereins Konstanz am 8.3.1966

Verehrte liebe Freunde der bildenden Kunst !
Ich bin mir durchaus bewußt, dass mein Thema nicht auszuschöpfen ist. Ich kann einerseits nur Allgemeingültiges aussagen, möchte jedoch wenigstens in die Bedeutung der Symbolkraft, bzw der Ordnungskraft der Linien und geometrischen Flächen :für den Beginn des künstlerischen Gestaltungsprozesses ein wenig hineinleuchten.
Führen wird mich unter Anderem die Kunstlehre AdolfHölzels, die uns durch einige seiner Schüler nacherzählend oder weiterbildend erhalten wurde.
Seine bedeutendsten Schüler sind Paul Klee, Oskar Schlemmer und der Kunsthistoriker Johannes Itten.
Die Erringung künstlerischer Maßstäbe und künstlerischen Qualitätsempfindens ist in unserer Zeit sehr schwierig geworden. Umgeben von geistigen Unsicherheiten und bildkünstlerischen Experimenten, ja Fragwürdigkeiten kann uns zunächst nur Besinnung helfen.
Den bildenden Künstler regen oft reine Augenerlebnisse zum Schaffen eines Bildes an, oder es zwingen ihn innere, seelische und geistige Situationen dazu. Er weiß: Die Welt des Bildes ist eine andere, als die wirkliche Welt, und die Lebensbedingungen seiner Bildgeschöpfe sind andere als die der wirklichen Geschöpfe. Bildhafte Darstellung ist ja die Übersetzung der dreidimensionalen Welt der Erscheinungen auf die zweidimensionale Bildfläche. Auf ihr geschieht Umformung, Umwandlung, Verwandlung; denn der Maler kann nur die Zeichen für etwas auf die Malfläche setzen, und diese gilt es zu finden und zu erfinden. Die Zeichen müssen ausdrucksvoll sein und Energien ausstrahlen. Schon ein Farbpunkt, eine zwingende Linienführung, die einfachste mehr oder weniger geometrische Figur strahlt im Medium des Bildes aus, bekommt Bedeutung, ja im glücklichen Fall sogar symbolische Bedeutung.
Bei Paul Klee zum Beispiel trotzt eine aufsteigende Linie der Schwerkraft und ist ein Symbol menschlicher Sehnsucht. Ein Kreis ist in sich geschlossen, eine endlose Bewegung, ist Symbol des Ewigen. Die Energien der Zeichen strahlen aus. Es entwickeln sich innerhalb der Bildbegrenzung Entsprechungen und Gegensätze, Spannungen und Entspannungen. Das Bild beginnt sein eigenes Leben. Dennoch können wir noch nicht von einer Bildschöpfung sprechen. Erst wenn der Maler oder Zeichner vom Beginn des Gestaltungsprozesses an und in jedem Stadium der Bildwerdung seine Zeichen auf der Fläche des Bildes ordnet, entsteht eine Schöpfung. Das Prinzip der Ordnung, das wir allenthalben als Gesetz in der Natur erkennen, ist auch für die Bildwerdung oberstes Gesetz.
Der Künstler denkt und ordnet im Sinne seiner vier Ausdruckmittel: Linie, Fläche, Hell-Dunkel und Farbe. Je einfacher er mit ihnen arbeitet, umso gesteigerter spricht schöpferischer Geist aus ihnen. Dabei ist das Auge des Malers Mitschöpfer am Kunstwerk. Es selbst lernt nichts vom Verstande, sondern dieser muß von ihm lernen. Der äußerliche Eindruck, den es uns vermittelt, geht in eine seelische Empfindung über und kann sich bis ins Übersinnliche steigern. Wird dem Auge irgend ein Eindruck, irgend ein Anreiz geboten, so reagiert es sofort und wird selbstschöpferisch tätig. Ist es unbefriedigt durch das, was ihm geboten wird, so muß es einen Ausgleich suchen, ihn zur Not selbst hervorbringen. Es kann nicht anders; denn es ist ihm angeboren, daß es handeln muß um Harmonie, Einklang mit sich selbst zu schaffen.
Der Künstler, der tiefer in die Geheimnisse der Wechselwirkung zwischen dem Auge und den dynamischen Kräften der Linien und Formen, der hell-dunkel-Wirkungen und der Farben eindringt, erfühlt und begreift nur durch ständige Arbeit die Eigenschaften dieser Mittel.
Wie beim Kontrapunkt in der Musik“ punctus contra punctum“, das heißt Note gegen Note gesetzt wird, so geschieht dies auf der Bildfläche mit Linie und Gegenlinie Form und Gegenform, Licht und Dunkelheit, Farbe und Gegenfarbe, Zahl und Maß. Jedoch bedeutet ausschließlich geschickte oder gar raffinierte Verwendung der Mittel ohne Geist und Gefühl den Verfall der Kunst. Braque sagt: „Wenn man den Kontakt mit der Natur verliert, wird man unweigerlich in der Dekoration enden.“
Adolf Hölzel fand auf der Suche nach verlorengegangenen Gestaltungs und Harmoniegesetzen: „Alle künstlerische Arbeit ist das Erschaffen und Wiederausgleichen von Gegensätzen. Das Endziel ist Harmonie.“
Im Leben und in der Kunst gibt es keine Wirkung ohne Gegensatz. Denken wir nur an Tag und Nacht, Winter und Sommer, Alltag und Festtag, Jugend und Alter, Gelingen und Mißlingen, Zuneigung und Abneigung.
Wenn der Künstler Gegensätze geschaffen hat, muß er wieder eine Vermittlung finden, einen Ausgleich, etwas Gemeinsames, das sie mit dem Ganzen verbindet. Als Ausgleich kann ein drittes Motiv dienen, das mit dem ersten verwandt ist, so wie etwa der Rhombus mit dem Quadrat und dem Dreieck. Zwei harte Scharz-weiß- Töne können durch einen grauen Mittelton, zwei dissonierende Farben durch eine verwandte zur Harmonie gebracht werden. Kontraste liegen weit voneinander entfernt. Der Ausgleich liegt zwischen den Kontrasten.
Je mehr Gegensätze ein Bild aufweist, desto mehr Reize gehen von ihm aus. Ist die große Hauptwirkung eines Bildes vorhanden, so kann der Künstler seine Arbeit durch neu hinzugefügte Kontraste unendlich bereichern. Ein vorwiegend symmetrischer Entwurf zum Beispiel kann durch einige Abweichungen von der Symmetrie einen ganz neuen Reiz erhalten. Umgekehrt kann ein freier Entwurf mit vielen willkürlichen Detailformen durch Zusammenfassung in wenige große geometrische Hauptformen vereinfacht und geklärt werden. Das Erfinden neuer Gegensätze befruchtet die Fantasie. Das Wichtigste aber ist, daß zu jedem Gegensatz sogleich der Ausgleich gefunden werde, damit alles Einzelne sich wieder zum Ganzen finde.
Da die zweidimensionale Bildfläche ein geometrisches Gebilde darstellt, erhalten logischerweise die Grund- oder Urformen der geometrischen Flächengebilde: Kreis, Quadrat und Dreieck für den Bildbau (man spricht auch von Bildarchitektur), also für die Komposition besondere Bedeutung. Sie sind die einfachsten Formen und dazu von absoluter Gleichmäßigkeit. Diese Urformen im Kunstwerk angewandt, lassen die Unruhe und Verworrenheit des Alltags vergessen. Das menschliche Auge und Gemüt werden unendlich beglückt, wenn sie im Kunstwerk strenge, große, einfache und vollkommen gleichmäßige Grundformen wiederfinden. Der Betrachter ahnt, daß es eine höhere Weltordnung, eine strenge unumgängliche Gesetzmäßigkeit gibt, und daß ein Sinn hinter allem Schein steht. So wirkt der Anblick des Kreises vollkommen harmonisch und befriedigt das Auge mehr als jede andere Form. Er ist ohne Anfang und Ende in sich selbst immer weiter flutend das Sinnbild der Ewigkeit. Er erweckt unzählige Vorstellungen, z.B. die Erinnerung an Sonne, Mond, Gestirne, Form vieler Blumen und Früchte und an den Kreislauf des Blutes und des Lebens. Die absolute Gleichmäßigkeit des Quadrates kommt unserem Verlangen nach Symmetrie und Ordnung am meisten entgegen. Die Zahl 4, die streng und eindringlich aus seinen Seiten und Ecken spricht, erweckt im menschlichen Unterbewußtsein viele große Vorstellungen: 4 Himmelsrichtungen, 4 Tages-, 4 Jahreszeiten, 4 Mondphasen, Goethe nennt die 4 die „faßlichste Zahl“ und spricht von der in ihr enthaltenen“ doppelten Symmetrie „.Im Aufbau des Bildes wirkt das Quadrat immer ruhig, groß und bedeutend. Das gleichseitige Dreieck scheint die Verbindung von Himmel und Erde anzudeuten. Aus seinen Seiten und Ecken spricht mächtig die Dreizahl, die tief mit der Natur verwoben und in den größten Symbolen der Menschheit lebendig ist. Lassen Sie uns meine sehr verehrten Damen und Herren doch einmal nachprüfen, wie einfach man ein starkes Augenerlebnis darstellen könnte, vielleicht das Erlebnis der Pyramide von Gizeh bei Sonnenauf- oder Untergang. Ein Stückchen Papier und ein Bleistift genügen, um ein kleines Kunstwerk zu schaffen, und es ist dabei gleichgültig, wie man technisch zu Werke geht, ob man graphisch-linear, graphisch- flächig oder tonig-malerisch mit Hell-dunkel Wirkung zeichnet. In jedem Falle erreicht man Monumentalität, weil sie allein schon durch die Vereinigung zweier kontrastierender Grundformen der Geometrie gegeben ist. Die Vereinigung der drei Grundformen, sich verschränkend und einander durchdringend bedeutet eine reiche Grundlage für den Bildaufbau. In der Vereinigung von Viereck und Dreieck tritt die bedeutende Siebenzahl in Erscheinung, verbunden mit der Unmeßbarkeit des Kreises. Die Vereinigung der drei Grundformen erfüllt bereits eine erste Bedingung der Kunst: Sie enthält zugleich Kontrast und Harmonie. Ich möchte dies an „Dürers Titelblatt zum Marienleben“ demonstrieren und zeigen, welche Vollendung künstlerischer Gestaltung allein schon in der Bildkomposition zum Ausdruck kommen kann. Es handelt sich jetzt um die bildnerische Gestaltung eines inneren seelisch-geistigen Verhaltens des Künstlers.

Albrecht Dürer wählt im Titelblatt seiner Holzschnittfolge des Marienlebens nur die drei geometrischen Grundformen. In die Regelmäßigkeit des Quadrats zeichnet er die des Kreises und und in sie wiederum die des gleichseitigen Dreiecks. Die Hauptfigurengruppe seines Themas, Maria mit dem Kind, ordnet er in die Bildmitte, der Kreis wird mit der symbolträchtigen Figur der Mondsichel verbunden, und die freien Flächen des Quadrates werden mit Sternen und himmlischen Strahlen ausgefüllt. Diese Bildordnung wirkt klar, sicher, unabänderlich und beruhigend sie ist statisch. Chagall „Radfahrer im Zirkus“. Die Zeichnung dagegen ist dynamisch, eine Bildordnung die Chagall häufig, wenn auch immer variiert anwendet, um das Auge des Betrachters von einem symbolisch gemeinten Bildzeichen seiner Traumbilder oder Bildträume zum anderen wandern zu lassen. Jedes Bild verlangt eben jeweils eine seinem Thema ganz entsprechende Komposition. Chagall will mit dieser Anordnung die Kühnheit zirzensischer Leistung illustrieren. In seinem Bilde „Radfahrer im Zirkus“ von 1957 wird unser Auge durch eine kühne parabolische Kurve geradezu hineingerissen in das durch einen Halbkreis dargestellte, einzig auf der Grundlinie des Bildes festverankerte Rund der Zirkusmanege. Es kann unsere Augenbewegung jedoch nicht stoppen, denn es selbst löst sich in den Kreissegmenten der Zuschauerränge auf, wie bei einem Steinwurf die Wasserwellen nach dem Seeufer zu verebben. Wir sind der Rasanz unserer Artisten verfallen, wenn sie im Kreise um sich jagen. Die Turbulenz ihrer Leistungen wird durch die choreographische Figur des gleichseitigen Dreiecks gekrönt, das selbstverständlich nur durch schwingende Kreissegmente gefahren werden kann. Erst im Oval der geometrischen Form oben rechts scheinen sich die tollen Fahrer und scheint sich unser Auge beruhigen zu dürfen. ( Bedeutung imaginäre Bild-Linien!) Von den reichen Möglichkeiten kompositorischer Bildordnung möchte ich noch eine der einfachsten vorstellen. Sie beruht auf der Vereinigung von Rechteck und Quadrat, ist zu allen Zeiten angewendet worden, und Picasso verwendet sie ebenso wie Klee oder etwa der Engländer Sutherland, wenn er seine“ Signale des Grauens “ gestaltete. Die Schmalseite des rechteckigen Bildes wir dabei zur Basis eines großen Quadrates gemacht, oft ist dies Bildordnung in so feiner und verhüllender Art vorgetragen, daß keine Konstruktionslinien mehr zu sehen sind. Trotzdem empfindet das Auge die deutlich unterhalb der Bildform und fühlt sich angeregt, die unbewußt mit der Sehbewegung nachzuziehen. Ist auch das Bild reich ausgestattet worden, so findet der Blick doch in der Grundform Quadrat immer wieder Ruhe. Auf dieser Ordnung sind auch stark vereinfachte Darstellungen aufgebaut, wie etwa die Bilder zur „Manessischen Handschrift“ oder die Bilder „Rouaults“. Unser Auge ist immer tätig. Es erträgt den Anblick großer, leerer Flächen nicht lange, teilt sie auf und verbindet die entfernfesten Punkte miteinander. Es zeichnet allein schon die Mittellinien oder Grundformen ein, die so ihre natürliche Aufteilung erfahren. Die Hauptwirkungen des Bildes sollten auf solchen natürlichen Teilungslinien beruhen. Unser Auge geht dem Bildkreuz ebenso wie den Diagonalen nach und sucht unter anderem Halt in den Linien, die durch den goldenen Schnitt entstehen. Die beiden Mittellinien des Kreises wie des Quadrates bilden ein Kreuz. Dieses Bildkreuz enthält in sich einen der wichtigen Kontraste : Senkrecht und waagerecht. Es gibt jedem Bildaufbau Festigkeit; denn es betont deutlich die zwei Dimensionen der Fläche: Höhe und Breite. Die Vereinigung von senkrecht und waagerecht geht durch die ganze Natur. Von enormer Bedeutung auf die Architektur des Bildes ist der goldene Schnitt. Goerringer, der Erfinder des“ Goldenen Zirkels“ 1860 -1893 sagt von ihm: “ Das ist die Sprache, in der die Jahrtausende zueinander reden“. Die höchsten Schöpfungen der Kunst verlieren niemals ihre Wirkung auf das Auge, weil in ihrer „Schönheit“ immer dieses große kosmische Gesetz wirksam ist, das, meist unbewußt, in jedem Menschen lebt, sein Schönheitsempfinden leitet und deshalb auch bis ins Alltagsleben hinüberspielt. Der ebenmäßig gebaute menschliche Körper in allen seinen Teilen bis ins kleinste, das Tier und die Pflanze sind nach den Maßen des goldenen Schnittes erschaffen. Der Mensch empfindet sich als Maß aller Dinge, deshalb befriedigt es ihn, wenn er seine eigenen Maße in der Umwelt wiederfindet, er nennt sie schön. Erst der „Vater der Geometrie“ der Mathematiker Euklid fand um 300 vor unserer Zeitrechnung die mathematische Formel für dieses Maß und nannte sie den „Goldenen Schnitt“. Bild: Man teilt eine Linie so, daß sich ihr kleinerer Teil zum größeren verhält, wie dieser zur ganzen Linie. Er läßt sich zwar leicht konstruieren, aber sein unergründliches Geheimnis ist, daß er sich mit Zahlen nicht ausdrücken läßt. Die Maßverhältnisse 2:3, 3:5, 5:8, 8:13, usw. deuten ihn nur an. Sie bleiben ungenau, weil er immer einen unendlichen Dezimalbruch, eine Irrationalzahl ergibt. Der Künstler arbeitet bewußt und unbewußt mit ihm. Des Öfteren zwar muß er ihn auf der Bildfläche konstruieren, aber er hat ihn einfach in sich, gebiert ihn bewußt und unbewußt immer wieder aus sich heraus und läßt den Bildbetrachter immer von Neuem Schönheit, Maß und Ordnung, Harmonie erfahren. Geometrisch bebaute Bilder übermitteln Empfindung großer Ruhe, Klarheit und Dauer. Die Impressionisten allerdings konzentrierten sich mehr und mehr auf die Farbe als das wirklich Sichtbare und ließen nach und nach alle anderen Bildelemente als bloße gedankliche Konstruktion weg. Sie verfielen der Wiedergabe momentaner Erscheinung. Da kam Paul Cezanne: „Ich will aus dem Impressionismus wieder eine solide Sache machen, wie die Kunst der Museen!“ Das war der Augenblick der Besinnung auf die klassischen Ordnungen in der Kunst und ihrer Weiterentwicklung in die Modeme zugleich. Er bediente sich der neuen freien Farbe mit ihrer Eigenbewegung im Bilde, um aus ihr wieder festumrissene große Formen und klaren Bildraum auf zubauen. In einem seiner Briefe versicherte Cezanne, daß man die Natur auf die Grundformen von Kegel, Kugel und Zylinder zurückführen könne. Wenn man die Wirkung seiner Worte und ihre Auswirkung in seinen Arbeiten bedenkt, so ist es eine Ironie des Zufalls, daß er mit keinem Worte den Würfel, den Kubus erwähnte. Denn nachdem sich Picasso und Braque der Auffassung Cezannes angeschlossen hatten, war deren dynamische Wirkung auf die Entwicklung der Malerei unausbleiblich. Der Kubismus wurde aus der Taufe gehoben, mit dem man die Bildräume mit Hilfe geometrischer Funktionen neu gliedern, das heißt neu geordnet darstellen konnte. Wenn der Begriff der Darstellung des Raumes im Bilde öfter auftauchte so haben wir das Hauptanliegen der Abendländischen Kunst: Darstellung im Raum von einer zweidimensionalen Fläche berührt. Im Laufe der Kunstgeschichte wurden unwahrscheinliche Anstrengungen gemacht, um dieses Problem zu lösen. Denken Sie doch bitte nur an das Ringen um die Zentralperspektive in der Frührenaissance und die endgültige Findung einer bildordnenden Logik in der Renaissance. Kaum gefunden und künstlerisch exakt demonstriert, entdeckt man, daß sich Raum durch Ordnung der Hell-dunkel- Erscheinungen darstellen läßt. Ich möchte nur auf Lionardos Sfumato und Rembrandts Hell-Dunkel hinweisen. Zuletzt erst ereignete sich, wie schon erwähnt, jene Darstellung geordneten Raumes bei Cezanne.
Nun, wenn schon in den alten und ältesten Zeiten die ordnenden Kräfte geometrischer Formen in Bildbau erkannt waren, so mußten sich natürlicherweise diese Kräfte auch auf den Bildgegenstand im Einzelnen, sagen wir z.B., auf die Darstellung der menschlichen Figur auswirken. Ihre Erscheinung mußte sich dem einmal vorhandenen Bildgesetz harmonisch einfügen. Für den Maler ist der Bildgegenstand in erster Linie organischer Teil der Bildarchitektur. (Picasso) Die frühesten Untersuchungen von Künstlern über mathematische und geometrische Ordnungen in der menschlichen und tierischen Figur sind uns in dem Skizzenbuch des Villard d’Honnecourd aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts überliefert. Für ihn war z.B. der Hinterkopf des Menschen bilddarstellerisch eine reine Kreisform, um deren Mittelpunkt sich die Locken des Haares konzentrisch gruppierten. Diese Formfindung wurde für lange Zeit zum Kanon für die Darstellung der schlafenden Jünger am Ölberg. Bekannt sind auch die vielen Versuche Dürers, die Maße des menschlichen Körpers in geometische Schemata einzufügen, weil der goldene Schnitt immer wieder im Körperbau des Menschen zu finden war, müßte dies möglich sein. Dürers Bemühungen sind im sogenannten Dresdener Skizzenbuch und in seiner “ Unterweisung der Messung“ niedergelegt. Von diesen Bemühungen allein her könnten wir Dürers Ausspruch verstehen: „Die Kunst ist in der Natur, wer sie da kann herausreißen, der hat sie.“ Und sein Nachsatz scheint dabei besonders wichtig.“ Aber inwendig müßt ihr voller Form sein!“ Eine billige, pedantische Anwendung ordnender Systeme bringt keine wirkliche Harmonie zustande und bleibt technische Zeichnung, wenn sie ohne unser Auge und ohne Gefühle gemacht wird. Bei Linienteilungen und Linienüberschneidungen muß das Gesetz der optischen Täuschung berücksichtigt werden. Wie die Farbe, so ist auch die Linie relativ, das heißt, durch benachbarte Formen kann sie optisch einen anderen Wert annehmen. In solchen Fällen muß unser Auge korrigierend eingreifen. Jede künstlerische Arbeit richtet sich also auch gegen das Gesetz. Das aber kann man wiederum leichter umgehen, wenn man es kennt. Kalte Vielwisserei wird den Künstler eher hemmen, als fördern. In der Abhandlung von deutscher Baukunst schreibt Goethe:“ Je mehr sich die Seele erhebt zu dem Gefühl der Verhältnisse, die allein schön und von Ewigkeit sind, deren Hauptaccorde man beweisen, deren Geheimnisse aber man nur fühlen kann, desto glücklicher ist der Künstler“.

Über Erich Seidel
von Karoline Mueller-Stahl

Erich Seidel lebte von 1895 bis 1984, er hat somit fast das ganze 20. Jahrhundert – mit Ausnahme des Schlüsseljahres 1989 und des Endes des Kalten Krieges – bewußt miterlebt. Es ist von daher interessant zu fragen, welche Spuren seine Erlebnisse in seinem Werk hinterlassen haben. Welche Spuren gibt es, und wie sehen sie aus? Die große Ruhe, die sein gesamtes Werk ausstrahlt und die auffällige stilistische Einheitlichkeit haben mich vor dem Hintergrund dieser Frage zuerst erstaunt. Diesem Erstaunen werde ich nun ein wenig nachgehen.
Erich Seidel ist 1895 in Plauen im Vogtland (Sachsen) geboren. Am Fuss des Erzgebirges, wenige Kilometer von der Grenze zur K.u.k.-Monarchie entfernt. In Plauen besuchte er die Volksschule, dann von 1910-1915 das Lehrerseminar, dort erhielt er den ersten Zeichenunterricht (übrigens war dies wahrscheinlich der einzige überhaupt; er war im Grunde Autodidakt) und entfaltete sein Interesse, seine Begabung und sein Talent am Zeichnen. Der Wunsch, die Kunstakademie in München zu besuchen, wurde durch den Ausbruch des 1. Weltkrieges nicht erfüllt. 1915 wird er 20jährig an die Westfront geschickt, er fertigte zahlreiche Zeichnungen vom Krieg an, die leider nicht mehr existieren. Er erlitt eine Kriegsverletzung, die ihn zum Glück nicht lebensgefährlich verletzte, die aber viele Jahre später verhinderte, dass er im 2. Weltkrieg eingezogen wird.
Mit 23 Jahren geht er nach Rabenau bei Dresden, wo er viele Jahre als Lehrer arbeitet und seit 1920 auch als freischaffender Maler, Bildhauer und Zeichner. Es finden erste Gruppenausstellungen statt und 1943 die erste Einzelausstellung in der Galerie Kühl in Dresden. Später in den ideologisch verhärteten Zeiten der DDR darf er zwar nicht mehr an der Schule unterrichten, er arbeitet aber als freischaffender Maler weiter – mit zunehmendem Erfolg.
Es entstehen wichtige Arbeiten: 1947/1948 ein Altar-Triptychon für die evangelische Kirche in Auerbach im Erzgebirge. Bei einer Ausstellung in Freiberg 1947 wird der Kunsthistoriker Prof. Richard Hamann auf Seidels Werk aufmerksam, und er holte ihn 1950 als Lektor an die Humboldt-Universität holt. Dort unterrichtet Seidel „Zeichnen und Technologie der Bildenden Kunst“ und später sogar bei den Theaterwissenschaftlern. Die Frage, was gerade die Theaterwissenschaftler daran interessiert haben mag, Erich Seidel zu sich zu holen, ist von einigem Interesse für das Verständnis seiner Bilder.
Seidel hatte sich in Dresden viel in Theaterkreisen bewegt, seine Frau ist Tänzerin gewesen, sie hatte Unterricht bei Mary Wigman und beide standen in Kontakt mit Gret Palucca, eine der großen Ausdruckstänzerinnen der damaligen Zeit. Es verwundert insofern kaum, dass es eine große Anzahl von Bildern von Seidel gibt, die Theatermenschen zum Thema haben.
Darüber hinaus gibt es jedoch auch jenseits des Biographischen auf der Ebene seiner Bilder, etwas, was für die Theaterwissenschaftler interessant gewesen sein kann. Seidel, der vor allem Menschenmaler war, hat die Figuren auf seinen Bildern stark „in Szene“ gesetzt. Ob in den Portraits, den Aktzeichnungen, Bildern von Paaren oder Gruppen – und Seidel hat Hunderte von Bildern und vor allem von Zeichnungen angefertigt – immer haben wir es mit einem durchkomponierten Bildaufbau zu tun, in dem Seidel seine Figuren und die Konstellationen, in denen sie sich befinden, vorführt. Die Zeit seiner Arbeit an der Humboldt-Universität währt jedoch nicht sehr lang. Er bekommt zunehmend politische Schwierigkeiten und auch Gutachten von Universitäts-Kollegen können nicht verhindern, dass es zum Bruch kommt. Seidels Kunstauffassung lässt sich mit der Doktrin des „sozialistischen Realismus“ nicht vereinen. Seine Figuren haben etwas auffällig zeitloses, gesellschaftsloses, zumeist auch raumloses. Es sind undefinierte, in sich gekehrte Figuren, sie sind still, ernst, in Gedanken versunken, eher statisch als handelnd. Dieses Bild vom Menschen, das er in seinen Bildern entwickelt oder dem er dort auf die Spur kommen möchte, stößt auf Widerstand. Seine subtile, feine, eher suchende Haltung, die sich bemüht herauszufinden, was es ist, was das Wesen des Menschen ausmacht, passt nicht zu einer Kunstauffassung, die klare erzieherische Funktionen erfüllen möchte oder soll.[/one_half] [one_half_last] Er wird nun zunehmend bedrängt, seinen Unterricht umzustellen, er wird bespitzelt, schliesslich erhält er keine Lehraufträge mehr. 1956 zieht er daraus die Konsequenz, er lässt sich nicht korrumpieren, und passt sich nicht für die letzten vier Jahre bis zu seiner Rentenzeit an, sondern er flüchtet als 61jähriger Mann in die Bundesrepublik. Mit nichts weiter als einer Aktentasche geht er 1956 zunächst nach Oberhausen im Ruhrgebiet, wo er arbeitslos bleibt und einige schwere Jahre erlebt. Seine Familie folgt zwei Jahre darauf.
1960, als er an den Bodensee zieht, beginnt jedoch nochmals eine neue Phase in seinem Leben, es folgt eine Phase von fast zweieinhalb Jahrzehnten enormer Produktivität. Der größte Teil seines Werkes entsteht erst jetzt. Er stellt aus in Salzburg, Köln, Überlingen, Zürich, Berlin, München, Konstanz und er unternimmt nun bis ins hohe Alter Reisen! So fährt er 1975 mit 80 Jahren auf die Lofoten, er besucht Schweden, hält sich an der Ostsee auf, reist nach Süd-Frankreich, Kreta, in die Alpen, ins Tessin. Überall entstehen Bilder, nun auch von Landschaften. In ihnen vermittelt sich in gewisser Weise etwas Vergleichbares wie in den Menschenbildern. Auch sie suchen den Ausdruck des Feierlichen, diesen Ernst, das In-sich-Versunkensein. Auch in ihnen drückt sich das Nachdenkliche und Grosse aus.
Ich habe vorhin gesagt, dass mich vor dem Hintergrund seines bewegten Lebens die große Einheitlichkeit seines Werkes erstaunt. Eine Einheitlichkeit, sowohl hinsichtlich des Stils, als auch in Bezug auf die Motive. Sie hat möglicherweise auch etwas damit zu tun, dass Seidel Autodidakt gewesen ist, er hat keine Lehrer gehabt, keine Akademien besucht, die ihn geprägt hätten. Aber man kann sie vor allem auch als eine große Treue zu sich selbst verstehen. Seidel ist bei sich geblieben, bei den Fragen und Aufgaben, die ihn beschäftigt haben. Er hat sich in Variationen immer wieder der Frage nach dem Wesen des Menschen, seiner Einsamkeit mit sich, und seinen Konstellationen zu anderen gestellt.
Seidels Bilder sind nicht ausserhalb von Politik entstanden. Aber sie haben sich dem starken und ideologischen Druck, den das 20. Jahrhundert der Kunst zugemutet hat, verweigert. So ist er im positiven Sinne unbeirrt geblieben von dem, was um ihn herum geschah, auch was in der Kunst für jeweilige politische Bekenntnisse erforderlich waren. Deshalb finde ich in den Bildern von Erich Seidel eine große Unabhängigkeit – und eine starke Kontinuität. Sie sind ohne Apell und ohne eindeutige Botschaft. Eine Beziehung zwischen Bild und Betrachter entsteht nur dann, wenn dieser es will, wenn dieser sich einlässt, wenn dieser den Bildern nachspürt. Seidels Bilder sind nicht laut, schreiend, sie zwingen sich dem Betrachter nicht auf. Vielmehr lassen sie ihn frei, sich auf sie einzulassen oder nicht.
Das Jahr 1989 hat Erich Seidel nicht mehr miterlebt. Ich nehme auch nicht an, dass er durch die politischen Veränderungen andere Bilder gemalt hätte, aber er hätte vielleicht anders auf dieses Jahrhundert und auch auf seine Bilder zurückgeblickt.

Eröffnung der Sonderausstellung „Erich Seidel“ im Wiehre-Bahnhof, Freiburg am 25.01.2004

Erich Seidels Oeuvre (mit eindrucksvollen Anfängen und subtilem Spätwerk) beweist, dass sich Vollkommenes noch überbieten lässt. Seine Bilder und Zeichnungen ziehen den Betrachter an, weil sie Distanz zum Betrachter wahren. Ihre formale Noblesse schließt naives Gefallen aus und wirkt zugleich durch stille Macht der Schönheit. Ihr Ausdruck bleibt diskret, hält sich zurück und gewinnt dadurch den Reiz des Rätsels.
Diese Malerei, die sich als bildende Kunst zeigen muss und in ihrer Subjektivität für sich bleiben möchte, verlangt meditierendes Sehen, Was Seidel
geschaffen hat, eignet sich nicht für den Moment vor dem Bild. Seine Werke öffnen sich nur messender und fühlender Geduld. Sie kann die Geistigkeit erfassen, die in Form und Farbe an einfachen Motiven entwickelt worden ist; sie kann Sinn und Tiefsinn im Visuellen erahnen.
Seidel ist (trotz vorzüglicher Landschaften und Stilleben) Menschenmaler. In seiner Figurenauswahl treten Gestalten auf, die sich dem bürgerlichen Alltag versagen. Tänzer, Schauspieler, Dichter repräsentieren die künstlerische Existenz. Theater- und Museumsbesuchern oder Personen im Park wird das Leben für Stunden zum Fest. Am meisten kommen undefinierte Figuren, einzeln, zu Paaren, in Gruppen, vor; in Wunschtracht gekleidet; ernst, feierlich, hochmütig im Ausdruck; in gedankenvoller Zuständigkeit nach innen gekehrt und damit zeitlos, gesellschaftslos.

Diese wenigen Motive genügen Erich Seidel für eine Fülle erfindungsreicher Bilder. Er versteht es, in formaler Virtuosität (wie der Musiker bei Variationen) das Gleiche immer wieder anders erscheinen zu lassen. Hauptgrund für die willentliche Beschränkung ist aber, dass er seine Gestalten nicht um ihretwillen bringt, sondern als figürliche Zeichen für Inhalte, die nur indirekt darstellbar sind: für Vielfalt der Innerlichkeit. Er will Symbole für poetische Gemütszustände. Dazu reicht ihm so zusagen ein Figuren-Alphabet.
Symbole wie bei Seidel erschöpft man nicht mit der Wahrnehmung. Sehen muss, von Motiv, Farbe und Form gelenkt, in Empfindung übergehen. Die Realität des Bildes erfüllt sich erst in seiner seelischen Wirkung.
Was für den Künstler eindeutig war, wird wegen der privaten und offenen Symbolik für den ahnenden Betrachter vieldeutig. Das ist ein Mangel mit positivem Effekt, Denn das Bild gewinnt so an Anziehung; es fordert immer wieder zu sich heraus.
Seidel umdenkt und ummalt menschliche Zentralprobleme, Er fragt nach dem Ich und Welt, Einsamkeit, Stolz, Haltung der alltagsfernen Figuren, auch ihr Widerstand zum bedrängenden Bildgrund, lassen vermuten, dass hier ideale Maximen anerkannt werden: Standhaftigkeit gegenüber den Lebensmächten; Freiheit statt kollektiver Zwänge; Selbstbewahrung und Selbstbewährung.

Seidel hat sich niemals nach Aktualitäten gerichtet. Sein Stil ist völlig individuell bedingt. Er hat sich, lange zwischen Malerei und Bildhauerei unentschieden, selbst zum Künstler gebildet, der groß einsetzen konnte. Das Auerbacher Altar-Triptychon, Aufsehen erregend und nicht nur von Richard Hamann gerühmt, zeigt bereits seine Eigenart, nur mit barockem Einschlag und mit expressivem Pathos.
Auf dem Weg zu sich selbst, erst mit der Vision seiner Kunst, hat Seidel einige Meister der Vergangenheit beachtet, weniger auf Vorbilder als auf Ermutigungen aus, weniger auf Muster als auf Maßstäbe. Die Zusammenhänge ehren ihn. Er war befugt, bei Leonardo, Rembrandt, Hans von Marees und bei den französischen Symbolisten zu lernen.
Erich Seidel will Poesie durch die forma perfecta vermitteln. Sie war bei den Metaphysikern Abglanz ewiger Schönheit im Irdischen; später wurde sie ins rein Ästhetische verweltlicht; sie blieb das höchste Ideal gestaltender Künstler.
Die Form fällt Seidel leicht, weil sein bildnerisches Denken schöpferisch spielt.
Er gibt stets Flächen bezogene Kompositionen aus geometrischen Elementen, oft in kühnen Verhältnissen von Füllung und Leere. Dabei kommt er mit Wenigem aus; mit Kreis, Oval, Dreieck, Viereck, mit der Linie als Kurve oder Gerade.[/one_half] [one_half_last]Größenunterschieden, Kombinationen, Analogien, in Verdopplungen, Parallelen, Kontrasten wird das Einfache zur Vielfalt gebracht. Aber jede Starre fehlt. Denn Seidel kann das Monumentale durch feinste Abweichungen vom Regelhaften, durch zarteste Störungen im Gefüge, durch umwertende Akzente erleichtern. Konstruktion soll wie Improvisation anmuten.

Als Hauptmittel, bei der Form ein Zugleich von Festigkeit und Zartheit zu erreichen, dient die Farbe. Seidel ist ein hervorragender Kolorist. Das bezeugen schon seine dekorativen Bilder in der Erlesenheit der Peinture. Doch voll sichtbar wird sein Rang, wenn er die Farbe in ein Helldunkel versetzt, in dem sie sich zur Ahnung ihrer selbst aufhebt und das Monochrome behutsam tönt. Das Helldunkel kann seine Valeurs durch eingesprengte kostbare Pigmente veredeln, etwa durch knapp gehaltenes Blau vor braunen Tönen oder durch Spuren von Rot am Rand eines Schattens. Dieses ausdrucksvolle Helldunkel über architekturaler Ordnung ergibt geheimnisvolle Genauigkeit wie beim Gedicht.
Die Malweise Seidels ist auf seine Stilideale abgestimmt. Helldunkeltransparenz entsteht bei leichter Farbmaterialität. Für die stabilisierenden Teile der Komposition genügt Farbschmelz, der den Grund zu decken vermag. Alles, was die Form verrätselt, ist mit stark verdünnter Farbe aquarellmäßig gemalt. Dabei können Lasuren im Übereinander der Schichten mehrdeutige Färbungen ergeben oder optische Mischungen, die auf der Palette nicht zu erzielen wären.
Mit dieser Lasurtechnik gelingen Seidel Dämmerungs- und Geheimnisphänomene seiner Bilder. Häufig erscheint die Form in einem Raum, der zugleich Fläche ist. Auch Zustände zwischen Sein und Nichtsein werden fingiert. Weiterhin gibt es Andeutungen gerade bis zum Suggestionsvermögen des Abstrakten, bis zu schwierigen Zeichen für Figur und Objekt.
Seidels frei und locker wirkende Malerei, bis ins letzte ausgewogen, Produkt ästhetischer Rechnung, entsteht in langsamen Prozessen. Beim Vortrag geht es um bedachte Wechsel von Flächen, Flecken, Tupfen, Punkten, Linien; auch um Richtungen des Pinsels, um Lebhaftigkeit und Ruhe der Farbschrift, um Dichte und Transparenz. Gleichzeitig sind Farbstärken, Farbmengen und Farbverteilungen in Kontrasten und Harmonien auszuwägen. Ergebnis der komplexen Arbeit ist stets eine Bildstruktur von ausdrucksfähiger Schönheit. Seidel fasst seine Sujets außergewöhnlich auf. Hervorzuheben sind die Figurengruppen, bei denen das Momentane (etwa bei Tanz oder Promenade) stillzustehen scheint. Alles Anekdotische verliert sich im bloßen Beieinander von Gestalten. Trotz der Genremotive herrscht die Feierlichkeit sakraler Szenen.
Die Figuren Seidels sind Kunstfiguren. Sie vertreten einen einzigen Typus, als schön geformte Geschöpfe aus Geometrie und Leben, oft steil proportioniert, oft schulterlos. Ihre Haltungen und Gesten folgen tänzerischen Normen. Äußere Aktivität wird durch Stimmung ersetzt.
Am originellsten und am beachtlichsten sind Seidels Bilder mit lyrischen Motivverhältnissen. Sein Hauptwerk ist ihm geglückt, als er einen Dichter und einen Blütenstrauß als gleichrangige Partner gegeneinander und zueinander gestellt hat. Praktische Vernunft wird zugunsten der Poesie aufgehoben: Schweigen, in dem Worte zu Versen transzendieren, und Sprachlosigkeit, die sich in lebendigen Farben und Formen Hieroglyphen ihrer Botschaft finden.
Dass Seidels Kunst populär wird, ist wegen ihrer Individualität und wegen ihrer Idealität nicht zu erwarten. Ihre formale Perfektion ist nicht leicht zugänglich, zumal sie im Bereich des Subtilen bleibt und Werte bewahrt, die zur Zeit verworfen werden. Auch das Menschenbild, das sie, klassischer Überlieferung folgend, zeichnet, hat heutzutage wenig Chancen, weil die Gesellschaft ins Kollektivbewusstsein zurückfällt und weil Idole die Ideale verdrängen.
Seidel ist sich als Einzelgänger unbeirrt treu geblieben, von Freunden und Kennern begleitet und bewundert. Der Autor dieser Zeilen gehört seit fünfundvierzig Jahren zu ihnen.